Position

Kinderwunsch – Kinderrecht: Das Dilemma „multipler Elternschaft“
Plädoyer für das Recht des Kindes und heute erwachsener Menschen auf Kenntnis der eigenen Herkunft

Ein Leben mit zwei Anfängen. So fühlt es sich für Kinder an, die (in einem weiteren Sinn) „fremdbestimmt“ oder anders als „natürlich“ ihren Weg ins Leben gefunden haben und weiterhin finden. Sei es, weil sie adoptiert sind oder weil sie im Wege der Reproduktionsmedizin ins Leben kommen. In der fachwissenschaftlichen Diskussion ist die Rede von „gespaltener Mutterschaft“ oder „multipler Elternschaft“. Kinder und heute Erwachsene, deren Eltern(-teile) ihre sozialen aber nicht genetischen Eltern(-teile) sind. Beispielsweise inkognito oder (zweifelhaft bis kriminell und illegal) aus dem Ausland adoptierte Kinder. Kinder, die im Wege einer Eizellen- oder Samenspende, mit oder ohne Leihmutter, ins Leben kommen. Solche, die in einer Babyklappe abgelegt werden oder im Wege einer (ehemals anonymen) seit 2014 praktizierten vertraulichen Geburt ins Leben kommen. Kinder und heute Erwachsene, die ihren Vater oder ihre Mutter oder beide genetischen Eltern(-teile) nicht kennen und niemals persönlich kennenlernen werden, weil sämtliche Informationen zur Herkunft gar nicht vorhanden sind. Das liegt daran, dass es auch in Deutschland Konstellationen gibt, die das Recht auf Anonymität der Eltern über das Recht des Kindes auf seine Herkunft stellen. Möglich auch, dass die Informationen zur Herkunft im Abstammungs- und Personenstandsrecht anderer Länder nicht erfasst bzw. geregelt, bewusst gefälscht oder zerstört wurden. Letzteres z.B. im Zusammenhang mit geopolitischen Krisen, Bevölkerungspolitiken und zugehörigen Menschenrechtsverletzungen, z.B. in politischen Unrechtsregimen wie zuletzt beispielsweise in der ehem. DDR. Sie alle beginnen häufig – je nach Zeitpunkt und Qualität der innerfamiliären Aufklärung – erst im höheren Erwachsenenalter, ihre Herkunft zu klären. Ausgang ungewiss.

Wissen woher und wohin: Die Perspektive des Kindes (und heute Erwachsener)

Das Wissen um die eigene Herkunftsgeschichte ist für die so in die Welt kommenden Kinder und heute erwachsene Menschen eine Grundvoraussetzung einer seelischen Verbundenheit mit sich selbst, ihrer Familie und ihrer Lebensgeschichte. Häufig wird in diesem Zusammenhang von der „Wurzelsuche“ gesprochen. Gemeint ist das Wissen um die genetische, geschichtliche, familiäre, soziale und kulturelle Zugehörigkeit eines Menschen. Die Möglichkeit, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und sich darin einordnen zu können, einen kohärenten (multi-perspektivisch- ganzheitlichen) Standpunkt und Perspektive im Leben zu haben. Auf die existentiellen Fragen „Wer bin ich?“ und „Wo komme ich her?“ Antworten zu finden, zu erkennen und zu wissen, zu verstehen und zu integrieren: So bin ich geworden, der/die ich bin. Das fördert das eigene Selbstverständnis und Selbstbewusstsein: Das Wissen darum, wer die leiblichen (genetischen) Eltern(-teile) waren, welche guten und schlechten Zeiten und Erfahrungen die Herkunftsfamilie über Generationen hinweg beeinflussten, welche Einflüsse und Ereignisse „prägend“ oder lebensgeschichtlich bedeutsam wirkten, welche Persönlichkeitsmerkmale, Eigenschaften, Talente und Kompetenzen mit den Eltern(-teilen) und anderen Vorfahren verbunden sind. Erst in der Auseinandersetzung mit der Herkunfts- und multiplen Lebensgeschichte können Bewusstsein und Verständnis für die eigene Persönlichkeit, Werte, Überzeugungen, Interessen, Stärken und Schwächen entstehen, kann die eigene Lebensgeschichte reflektiert und eingeordnet werden. Dies alles – noch anders und mehr im Zusammenspiel verschiedener Kulturen – beeinflusst die Perspektive auf das eigene Leben. Es beeinflusst und lenkt die Möglichkeit, sich auch in „multiplen“ Kontexten zu verorten und darin ein Gefühl von Stabilität und Kontinuität, die „eigene Heimat“ und eigene Geschichte zu finden, die über die Zeit hinweg und auch mit Blick auf die nächste Generation und folgende Generationen Bestand hat. Zuguterletzt ist die mit dem Herkunftswissen verbundene Identitätsentwicklung ein wichtiger Baustein seelischer Gesundheit und persönlichen Wachstums, ein kontinuierlicher Prozess der Selbstreflexion und persönlichen Entwicklung.

Der Prozess der Herkunftsaufklärung, wenn er denn nicht idealerweise schon von Geburt an liebevoll von den Eltern(-teilen) begonnen und aufrecht erhalten wird, fällt für viele Jugendliche in die Phase der Pubertät, also in eine Lebensphase, die geprägt ist von der Klärung und Positionierung eigener Gefühle als Emanzipation von den Eltern, die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen, die Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle, die Vorbereitung auf Familie oder Beruf und die Entwicklung von Werten und moralischen Maßstäben für eigenes und fremdes Handeln. All dies gehört zur Identitätsentwicklung dazu. Idealerweise entwickeln Jugendliche ihre Identität in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern und der Familie, mit und in der sie aufwachsen. Sie finden Übereinstimmungen, grenzen sich auch zunehmend ab und stehen – altersentsprechend – für ihr eigenes Leben, ihr eigenes „ICH“. Bei Adoptierten, und das mag für anders in die Welt gekommene Kinder vergleichbar sein, fehlen soziale und biologische Übereinstimmung. Das Leben mit zwei bzw. multiplen Anfängen bedeutet im Grunde nichts anderes als das Fehlen biografischer Kontinuität. Wenn Kinder und Jugendliche phänotypische (auf Aussehen und Körpermerkmale bezogen) oder biografische (familiengeschichtliche) Unstimmigkeiten und Lücken entdecken – manchmal genügen ein Blick in den Spiegel, das Fehlen von Fotos und Geschichten aus der Zeit der Schwangerschaft und des ersten bzw. erster früher Lebensjahre oder das Erlangen sensibler Informationen – kann sie das verwirren. Wenn diese biografisichen Unstimmigkeiten und Lücken durch die sozialen Eltern nicht bedingungslos ehrlich, so früh wie möglich und altersangemessen so umfänglich wie möglich, aufgeklärt werden, kann das ungünstigstenfalls in der Pubertät oder im höheren Lebensalter, je später und unvorbereiteter, ungünstigstenfalls durch Dritte angestoßen, traumatisch wirken.

Positiv ausgedrückt: Indem Menschen sich mit ihrer Herkunft und Geschichte bewusst auseinandersetzen, entwickeln sie eine eigene Lebensperspektive und sind besser gerüstet, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, bewusster, verbundener und selbstmitfühlender, „gnädiger“ mit sich selbst, ihrer Geschichte und mit ihrer Umwelt und wirklich und im besten Sinne authentisch und kohärent – sie selbst – zu sein.

Multiple Perspektiven

Die Perspektive der sozialen (ungewollt kinderlosen) Eltern(-teile) ist demgegenüber im öffentlichen Bewusstsein sehr gut vertreten und hat eine Interessenvertretung in Politik, Recht und Medizin: Liberalisierung des Embryonenschutzgesetzes, Liberalisierung der Leihmutterschaft, Finanzierung und Weiterentwicklung der Kinderwunschbehandlung, Adoptionshilfegesetz, Samenspenderregistergesetz. Die Liberalisierung insbesondere des Embryonenschutzgesetzes und der Leihmutterschaft soll, so verstehe ich es, verhindern, dass ungewollt kinderlose Paare, Singlefrauen und -männer, ihren Kinderwunsch im Ausland, abseits rechtlicher Bestimmungen und fürsorgender schützender Strukturen und Angebote, realisieren.

Leihmutterschaft ist – neben allem bereits Gesagten – eine Herkunftsthematik, die die austragende Frau, die auch die genetische leibliche Mutter sein kann (aber nicht muss), und das ungeborene Kind gleichermaßen betrifft. Ethische, psychologische, medizinische und rechtliche Probleme kommen hier in eine „Potenz“ des reproduktionstechnisch Möglichen, insbesondere dann, wenn die austragende (biologische) Leihmutter das Kind genetisch fremder Spender (Samen- und Eizellenspende, oder Embryonenspende) austrägt und das Kind später in Deutschland von den sozialen Eltern adoptiert wird. Gespaltene Mutterschaft bzw. multiple Elternschaft und ein menschenrechtlich (ausbeuterisch) kontrovers diskutierter Kinderwunschmarkt „high end“ mit sechs verschiedenen Elternteilen! Völlig ungeklärt ist bislang, wie sich die heutigen Kinder und zukünftigen Erwachsenen in diesen neuen „multiplen“ Strukturen seelisch zurechtfinden und eine gesunde Identitätsentwicklung erleben sollen. Problematisch beispielsweise im Falle der späteren Familiengründung, im Falle von (Erb-)Krankheiten, Organtransplantationen, Identitätskrisen und psychischen Folgeerkrankungen. Für die Leihmütter hochgradig riskant, psychologisch, rechtlich, medizinisch und ethisch unterbelichtet: Auswirkungen einer Risikoschwangerschaft, Erkrankung der Leihmutter, Schädigungen des Embryos oder spät erkannte Behinderung des Kindes (während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt), Bindung zwischen Leihmutter und Kind, psychische Probleme der Leihmutter infolge des Konflikts zwischen Bindung und Vertrag mit den auftraggebenden Eltern(-teilen). Aktuell auch Auswirkungen geopolitischer Krisen auf ukrainische Leihmütter und europäische Auftraggeberinnen und Auftraggeber.

Babyklappen – ein letztes Beispiel verunmöglichter Herkunftsklärung – gibt es in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000. Studien und Statistiken belegen, dass diese nachweislich nicht zur Reduzierung der der Zahl an Kindstötungen beigetragen haben.[1] Das liegt vor allem daran, dass die Abgabe eines neugeborenen Kindes in einer Babyklappe von der Mutter bewusst geplant werden muss und in der Regel nicht spontan erfolgt. Nachteilig an diesem Konzept ist vor allem, dass die abgebende Mutter in ihrer Notsituation allein ist und bleibt, keine angemessene nachgeburtliche Versorgung stattfinden kann und der später erwachsene Mensch – Möglichkeiten zukünftiger DNA-Tests dahingestellt – nicht erfährt, wer seine Eltern sind. Auch im Falle einer vertraulichen Geburt, die zwar die Versorgung der Mutter verbessert und die Option der Aufklärung des Kindes ab dem Alter von 16 Jahren vorsieht, ist noch die Möglichkeit vorgesehen, Jugendlichen diese Auskunft zu versagen, wenn Interessen der Mutter dagegen stehen. Diese betreffen jedoch i.d.R. ihre Angst vor ihrem sozialen Umfeld und nicht vor ihrem Kind selbst. Das Kind bzw. der Erwachsene hat dann später nur die Möglichkeit, sein Auskunftsrecht vor dem Familiengericht zu erwirken. Ausgang ungewiss.

Vorläufiges Fazit: Die Perspektive der Kinder und zukünftig Erwachsenen wurden jahrzehntelang und werden weiterhin vernachlässigt. Sie wurden und werden mit der Aufarbeitung ihrer besonderen Biografie – ihrem Leben mit zwei bzw. multiplen Anfängen – den psychischen, rechtlichen, ethischen und medizinischen Folgen – häufig alleine gelassen. Herkunftsgeschichte als biografisches „Puzzle“, das den Kindern von heute und den Erwachsenen von morgen überantwortet wird von Eltern, die ihr „Wunschkind“ damit (in der Vergangenheit noch mehr als heute) häufig – nicht immer! – alleine lassen und wenig Sinn für die Bedürfnisse nach Herkunftsklärung ihres (erwachsen werdenden) Kindes haben.

Meine Position

Ich trete dafür ein, die Rechte, Interessen und Bedürfnisse der heutigen Kinder und zukünftigen Erwachsenen nach Herkunftsklärung in den Bereichen Adoption und Reproduktionsmedizin zu schützen und zu stärken. Selbst „inkognito“ adoptiert, ist es mir ein persönliches Anliegen, das öffentliche Bewusstsein für die nötige Aufarbeitung und Herkunftsklärung und die weiterhin dafür notwendigen Strukturen und Angebote zu entwickeln bzw. ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, damit das Menschenrecht auf Identität und Herkunft, wie in der UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 7 und 8 dargestellt, nicht nur garantiert, sondern auch mit Leben gefüllt und umgesetzt wird.

  1. Das Menschenrecht auf Kenntnis und Klärung von Herkunft und Identität (UN-Kinderrechtskonvention 1992, Artikel 7 und 8)

Der Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung (Kabinett Scholz, 2021-2025) formuliert mit Blick auf die angestrebten Veränderungen im Embryonenschutzgesetz und zur Legalisierung von Eizellenspende und Leihmutterschaft einige Ziele bzw. Vorhaben, die auch kritisch hinterfragt und kommentiert werden sollten[2]:

  • Die für die Finanzierung geltenden Altersgrenzen und Zahl der finanzierten Behandlungszyklen sollen überprüft werden;
  • Der Bund soll 25% der Kosten unabhängig von der Landesbeteiligung übernehmen;
  • Eine vollständige Übernahme der Kosten soll überprüft werden;
  • Die Kosten der Präimplantationsdiagnostik sollen übernommen werden;
  • Embryonenspende soll im Vorkernstadium legal werden;
  • Der elektive Singe-Embryo-Transfer soll legal werden;
  • Das Verbot der Eizellspende und das Verbot der Leihmutterschaft sollen überprüft werden.

Es geht um vielfältige ethische, psychologische, medizinische, pädagogische und rechtliche Probleme, die den ungewollt kinderlosen Paaren, Männern und Frauen, eventuell in ihren Auswirkungen auf das spätere Leben des Kindes, wenn es erwachsen ist, eine Familie gründen will, krank wird oder andere Krisen erlebt, gar nicht bewusst sind. Wenn das Kind da ist, scheint erst einmal alles gut zu sein.

Es fehlt: Die „Perspektive Kind“!

Die im Grundgesetz garantierten Rechte aller Menschen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit stehen sich im Falle der Kinderwunsch-Thematik gegenüber: Das Recht ungewollt kinderloser Paare und Singles auf Fortpflanzung und Selbstverwirklichung (Artikel 2, Absatz 1; Artikel 3) gegenüber dem Recht des Kindes auf (im weitesten Sinne) Freiheit, Schutz, Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung (Artikel 1, Absatz 1; Artikel 2, Absatz 1; Artikel 3, Absatz 3). Konkreter noch wird das Recht eines Menschen auf Kenntnis seiner Abstammung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.01.1989 (1 BvL 17/87) formuliert, ausgehend vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 iVm Art. 1 des Grundgesetzes.

Der Deutsche Ethikrat hat sich damit in früheren Jahren bereits beschäftigt und in seiner Stellungnahme 02/2016 im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Embryonenschutzgesetzes den Schutz der Interessen des Kindes und dessen Recht auf Herkunftsklärung bekräftigt.[3] Noch 2013 nahm die damalige CDU-geführte Regierung Position gegen eine Liberalisierung des Embryonenschutzgesetzes. Heute – im Kontext „multipler Elternschaft“ – scheint sich ein Wandel zu vollziehen, den die einen als „zeitgemäß“ bezeichnen mögen, andere als „verantwortungslos“. Die ethischen Grenzen des Wandels (und des Machbaren) nicht nur medizinisch, sondern auch ethisch, rechtlich, psychologisch und politisch verantwortlich zu sehen und auszuhandeln, scheint umso wichtiger.

Das reformierte deutsche Adoptionshilfegesetz vom 01.04.2021 trägt den Erkenntnissen der Adoptionsforschung insoweit Rechnung, dass die Beratung aller am Adoptionsprozess Beteiligten vor, während und nach der Adoption verbessert wird (Baustein 1) und ein offenerer Umgang mit der Adoption gefördert wird (Baustein 2) bzw. – im Konjunktiv I formuliert – „werden soll(en)“. Auch hier: Die Zusicherung über die Aufklärung der Herkunft bleibt in der Verantwortung der aufnehmenden/sozialen Eltern(-teile) und ist im Falle lesbischer Paare nicht vorgesehen.

Der „Haken“ an den verschiedenen gesetzgeberischen Zusicherungen im/in der

  • Grundgesetz
  • Europäische Menschenrechtskonvention Abschnitt I Artikel 8 (1)
  • Bundesverfassungsgerichtsurteil 31.01.1989
  • UN-Kinderrechtskonvention 1992 Artikel 7 und 8
  • Samenspenderregistergesetz 2018
  • Adoptionshilfegesetz 2021

ist, dass die Frage, ob und wie das Recht tatsächlich zugunsten der erwachsenen, Herkunft suchenden Menschen angewendet wird, von Gerichten einzelfallbezogen entschieden wird. Abgewogen wird stets das Recht des Kindes auf Herkunftsklärung gegen das Recht der abgebenden oder spendenden Frauen und Männer auf Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte und Intimsphäre. So ist es auch heute nicht möglich, die leibliche Mutter auf Preisgabe der Identität des leiblichen Vaters zu verklagen. Das Recht wirkt unmittelbar nur gegen den Staat, nicht als Anspruch, sondern als Abwehrrecht. Es gibt kein Recht auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung, sondern schützt lediglich vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen.

Wenn aber – vom anderen Ende her gedacht – das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht „absolut“ geschützt bzw. gewährleistet und garantiert ist, im Gegenteil: im Einzelfall „verhandelt“ werden muss, dann bedarf es anderer Regelungen und Schutzmechanismen für die von diesen Gesetzen in ihrer Herkunftsklärung unmittelbar betroffenen Menschen.

Dabei geht es mir, in Anerkennung der Vielfalt gelebter Familienformen, nicht um ein „entweder – oder“ sondern um Transparenz, den Schutz und die Durchsetzung der kindlichen (heute erwachsenen) Rechte auf Kenntnis der genetischen Herkunft durch staatliche Regelungen, Strukturen und Prozesse sowie die Zusicherung, Bereitstellung und Garantie behördlicher, finanzieller und beratender/therapeutischer und sonstiger Hilfen für deren Einhaltung und Umsetzung: Den in o.g. Gesetzen, Gerichtsurteilen, Konventionen und Stellungnahmen formulierten „Bekenntnissen“ zum Wohl der Kinder und heute erwachsenen Menschen, müssen Strukturen, Angebote und „Taten“ zur Seite gestellt werden, das Recht auf Herkunftsklärung umzusetzen.

Zwei Beispiele dafür: Das 2021 reformierte deutsche Adoptionshilfegesetz geht prinzipiell in die richtige Richtung, greift jedoch noch zu kurz:  Jedem jugendlichen Menschen ab dem Alter von 16 Jahren ist Einsicht in die Adoptionsakte zugesichert. Oder – anderer Fall –  im Alter von 18 Jahren Auskunft aus dem Samenspenderregister. Diese „Zusicherungen“ sind jedoch zwingend an eine vorangegangene Aufklärung durch die sozialen Eltern(-teile) gebunden, die der Gesetzgeber allerdings nicht weiter geregelt, sondern den Eltern(-teilen) überantwortet hat. So betrachtet steht dem zugesicherten Recht keine Gewähr auf Einhaltung bzw. Umsetzung gegenüber.

Im Falle einer Samen- oder Eizellenspende im Ausland, die dort häufig „anonym“ erfolgt, gibt es keinen juristischen Nachweis zur Herkunft des Kindes (Abstammungs- und Personenstandsrecht), ihm in höherem Lebensalter eine spätere Herkunftssuche zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. In der Vergangenheit inkognito adoptierten Menschen (ggf. auch heute noch, aus guten Gründen „inkognito“) bleibt dann – wenn die genetische Herkunft als von den sozialen Eltern (oder von einem Elternteil) abweichend erkannt oder offenbart wird – nur der Weg über DNA-Datenbanken. Es fehlen in Deutschland, Europa und weltweit rechtliche und ethische Standards, eine Samen- oder Eizellenspende, Leihmutterschaft oder Adoption in einem (ggf. überstaatlich) anerkannten Dokument zu dokumentieren und Jugendlichen ab Erreichen der jeweiligen Altersgrenze ihre genetisch abweichende Herkunft in einem rechtlich und beraterisch „normierten“ Prozess – außerhalb elterlicher Aufklärung – zu offenbaren.

Die Frage der Abwägung unterschiedlicher Interessen und Rechte ist dabei zweifelsohne eine rechtliche, ethische und psychologische Herausforderung. Diese kann aber umso besser gemeistert werden, je verbindlicher Paare, Männer und Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch auf die Aufklärung ihrer jugendlichen Kinder, am besten von Geburt an – spätestens mit 16 oder 18 Jahren – verpflichtet, beraten und vorbereitet, geschult und begleitet werden und die Einhaltung dieser Pflicht auch geprüft und gewährleistet wird. Größtmögliche Aufklärung und Transparenz, frühestmöglich und dem jeweiligen Alter des Kindes angemessen, ist das Beste für das Kind, stärkt und schützt die Eltern-Kind-Beziehung in der gemeinsamen Wahrnehmung und Anerkennung ihrer besonderen Familiengeschichte.

  1. Argumentationszusammenhang und Zielvorstellungen

Insbesondere bedacht werden sollten in der fachlichen, ethischen, medizinischen, juristischen, therapeutischen, wissenschaftlichen, institutionellen und politischen Diskussion und Arbeit:

  1. das Ziel, jedem Menschen, der nach seinen Wurzeln forscht, dieses Recht und damit verbundene Unterstützung zuzusichern (Artikel 7 und 8 der UN-Kinderrechtskonvention, Adoptionshilfegesetz 2021) und dessen Einhaltung in Politik und Verwaltung zu überwachen und mittels geeigneter Beratungs- und Förderstrukturen zu gewährleisten (wie in der Schweiz seit 2018 gesetzlich geregelt). Beispielsweise durch Veränderungen im Adoptionsrecht, im Abstammungs- und Personenstandsrecht;
  2. die mit der Unterstützung verbundene Übernahme von Kosten durch die Krankenkassen für die Herkunftssuche und ggf. begleitende therapeutische Maßnahmen, mindestens in einem Umfang, der von den Krankenkassen auch für die Kinderwunschbehandlung übernommen wird;
  3. parallel oder alternativ dazu ein öffentlicher (Solidar-)Fonds, in den Adoptions- und Leihmuttervermittlungsagenturen, Kinderwunschkliniken und Eltern (Kundinnen und Kunden dieser Agenturen und Kliniken) – oder nur die Eltern(-teile) – mind. 18 Jahre lang einzahlen (oder als Einmalzahlung leisten, ggf. in die Vermittlung oder Kinderwunschbehandlung eingepreist), um daraus später, wenn von den dann erwachsenen Kindern gewünscht, deren Herkunftssuche und Therapie zu finanzieren;
  4. Bewusstseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit für dieses Thema und die Folgen, die eine Nichtbeachtung für die persönliche und öffentliche Gesundheit haben;
  5. die Folgen, die eine ungeregelte Reproduktionsmedizin für die natürliche Reproduktion mit Blick auf das damit verbundene Inzest-Risiko hat. Damit könnte gleichzeitig (unqualifiziert, ohne genaue Zahlen) unterstellt werden, dass die mit einer Samen- oder Eizellenspende in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren in die Welt gekommenen Kinder hunderttausendfach unterwegs sind (weil außerhalb von Deutschland länger und ungeregelt erlaubt) und bei einer Verpartnerung mit Familienwunsch möglicherweise nicht wissen, ob/wie sie genetisch miteinander verwandt sind. Ein hohes ethisches, rechtliches, psychologisches und medizinisches Risiko.
  1. Was braucht es?

Es braucht Menschen – und ich, inkognito adoptiert, bin nur eine davon – die die Perspektive und Rechte der Kinder und zukünftigen Erwachsenen nach Klärung ihrer Herkunft in das öffentliche Bewusstsein bringen und im Wege der Gesetzgebung, durch Schaffung geeigneter Strukturen und Angebote, entwickeln, stärken bzw. einfordern und durchsetzen möchten.

Das Recht auf Klärung der eigenen Herkunft ist laut UN-Kinderrechtskonvention ein Menschenrecht (Artikel 7 und 8).

Dieses Recht und daraus abgeleitete, heute schon bestehende, gesetzliche Rahmen und Bestimmungen, dürfen keine „Bekenntnisse“ und „leere Worthülsen“ bleiben. Die zugesicherten Rechte benötigen Strukturen und Angebote, konkrete „Taten“ und ein öffentliches Bewusstsein, damit die Folgen „multipler Elternschaft“ für heute noch kleine Kinder und die zukünftigen Erwachsenen verstehbar, bewältigbar und integrierbar sind.


[1] Quelle: Deutsches Jugendinstitut https://www.dji.de/veroeffentlichungen/aktuelles/news/article/750-babyklappen-und-vertrauliche-geburten.html, aufgerufen am 12.11.2023

[2] Vgl. KENTENICH, H./TAUPITZ, J./HILLAND U. 2022: Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung: Was sich in der Reproduktionsmedizin verändern soll. In: J. Reproduktionsmed. Endokrinol 2022; 19 (2), 86-90, Quelle: https://www.kup.at/kup/pdf/15177.pdf, aufgerufen am 12.11.2023

[3] Quelle: Deutscher Ethikrat https://www.ethikrat.org/mitteilungen/mitteilungen/2016/deutscher-ethikrat-empfiehlt-gesetzliche-regelung-der-spende-und-adoption-ueberzaehliger-embryonen/, aufgerufen am 12.11.2023