Geschichte in uns
Angestoßen durch meine Recherchen zur Familienforschung über Ancestry und mit Unterstützung des Berufsgenealogen, Christian Klobuczynski und der Herkunftsberaterin Susanne Panter, begann ich erst im Jahr 2021, mich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen. Insbesondere mit der Geschichte Polens (ehem. Westpreußen) und des Ruhrgebiets vom 19. bis zum 20. Jahrhundert. Ich musste mehrere Schritte von meiner eigenen Adoptionsgeschichte zurücktreten. Erkennen und zugestehen, dass alles Geschriebene über erlebte Traumata und deren Auswirkungen auf die Seele und auf den Körper in einem generationenübergreifenden Verständnis auch für meine und unser aller Vorfahren galt und weiterhin gilt.
Ich kann heute verstehen, dass und wie – über mehrere Generationen hinweg – sowohl die Frauen in meiner leiblichen Familie als auch die Frauen in meinen Adoptivfamilien in ihrer Persönlichkeit, ihrer eigenen erlittenen Erziehung und dem, was sie in ihrer Erziehung an die Kinder weiter gaben, durch die beiden Weltkriege geprägt waren und gelenkt wurden. Dieses Verständnis „rückt“ meine und andere gegenwärtige Lebensläufe in eine andere, transgenerationale, Perspektive.
Das Wissen um diese Zusammenhänge kann nicht alles entschuldigen und verzeihen, aber ein anderes Sehen und Verstehen fördern. Ich weiß heute – leider nur aus Büchern und nicht aus persönlich erzählten und vermittelten Geschichten und Gefühlen – dass unsere Eltern und Großeltern während der letzten beiden Jahrhunderte nicht auf Rosen gebettet waren. Sie haben mehrheitlich das Gegenteil erlebt: harte Erziehung, Verlassensein, Elternlosigkeit, Verwahrlosung, Gewalt, Armut, Hunger, frühe und schwere Arbeit, Krankheit, Krieg, Not, Vertreibung, Flucht. Sie mussten damit ohne fremde Hilfe zurechtkommen. Sie mussten zum Familieneinkommen beitragen, existenzielle Krisen wie den Verlust lieber Menschen durch Krieg, Völkermord, Vergewaltigung, Hungertod, Heimunterbringung, Zwangsarbeit erleben und überwinden. Unsere Eltern und Großeltern waren häufig selber schwerst traumatisierte Opfer ihrer Zeit und gaben erlebte Kälte und Gewalt im Kontext ihrer nicht bewältigten Lebensgeschichte ebenso häufig auch an ihre eigenen Kinder weiter. Bis in die Generationen der in den vierziger- bis achtziger Jahren geborenen Kinder – meine, frühere und folgende Generationen. Dieses Wissen, wenn wir ihm denn – auch in einem transgenerationalen Verständnis – durch eigenes Leid oder Forschung endlich auf die Spur kommen, schützt nicht vor dem seelischen und körperlichen Schmerz, der damit verbunden sein kann. Dieses Wissen kann uns (muss aber nicht!), wenn wir die Geschichte in uns erkennen und integrieren, persönlich wachsen und mit uns und unserer Familiengeschichte Frieden schließen lassen.
In diesem Zusammenhang wegweisend waren für mich die Bücher von Sabine Bode (Die vergessene Generation, Nachkriegskinder, Kriegsenkel) sowie die systemische und genalogische Perspektive dazu von Anne A. Schützenberger (Oh, meine Ahnen) und Ilke Crone (Das vorige Jetzt).
Das Buch Kriegsenkel zum gleichnamigen Kongress (es gibt auch eine Audio-Dokumentation, kostenpflichtig) vertieft das Verständnis für die Lebensschicksale unser Groß- und Urgroßeltern.